Epik - Literaturstunde

Literatur-,Theater-, Film- und Schreibkurse am RTG-Schwerte zwischen 1982 und 2012
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Epik

SCHREIBSCHULE
Ilse Aichinger
 
DAS FENSTERTHEATER
 
Die Frau lehnte am Fenster und sah hinüber. Der Wind  trieb in leichten Stößen vom Fluss herauf und brachte  nichts Neues. Die Frau hatte den starren Blick neugieriger  Leute, die unersättlich sind. Es hatte ihr noch niemand  den Gefallen getan, vor ihrem Haus niedergefahren zu werden.  Außerdem wohnte sie im vorletzten Stock, die Straße lag zu tief unten. Der Lärm rauschte nur mehr leicht herauf. Alles lag zu tief unten. Als sie sich eben vom Fenster abwenden wollte, bemerkte sie, dass der Alte gegenüber  Licht angedreht hatte. Da es noch ganz hell war, blieb dieses Licht für sich und machte den merkwürdigen Eindruck,  den aufflammende Straßenlaternen unter der Sonne machen. Als hätte einer an seinen Fenstern die Kerzen angesteckt, noch ehe die Prozession die Kirche verlassen hat.  Die Frau blieb am Fenster. Der Alte öffnete und nickte herüber. Meint er mich? dachte  die Frau. Die Wohnung über ihr stand leer und unterhalb  lag eine Werkstatt, die um diese Zeit schon geschlossen  war.  Sie bewegte leicht den Kopf. Der Alte nickte wieder.  Er griff sich an die Stirne, entdeckte, dass er keinen Hut  aufhatte, und verschwand im Inneren des Zimmers. Gleich darauf kam er in Hut und Mantel wieder. Er zog den  Hut und lächelte. Dann nahm er ein weißes Tuch aus der  Tasche und begann zu winken. Erst leicht und dann immer  eifriger. Er hing über die Brüstung, dass man Angst bekam, er würde vornüberfallen. Die Frau trat einen Schritt  zurück, aber das schien ihn zu bestärken. Er ließ das Tuch  fallen, löste seinen Schal vom Hals -  einen großen bunten  Schal  - und ließ ihn aus dem Fenster wehen. Dazu lächelte er. Und als sie noch einen weiteren Schritt zurücktrat, warf er den Hut mit einer heftigen Bewegung ab und wand  den Schal wie einen Turban um seinen Kopf. Dann kreuzte  er die Arme über der Brust und verneigte sich. Sooft er  aufsah, kniff er das linke Auge zu, als herrsche zwischen  ihnen ein geheimes Einverständnis. Das bereitete ihr so lange Vergnügen, bis sie plötzlich nur mehr seine Beine in  dünnen, geflickten Samthosen in die Luft ragen sah. Er  stand auf dem Kopf. Als sein Gesicht gerötet, erhitzt und  freundlich wieder auftauchte, hatte sie schon die Polizei  verständigt.  Und während er, in ein Leintuch gehüllt, abwechselnd an  beiden Fenstern erschien, unterschied sie schon drei Gassen weiter über dem Geklingel der Straßenbahnen und  dem gedämpften Lärm der Stadt das Hupen des Überfallautos. Denn ihre Erklärung hatte nicht sehr klar und ihre Stimme erregt geklungen. Der alte Mann lachte jetzt, so  dass sich sein Gesicht in tiefe Falten legte, streifte dann  mit einer vagen Gebärde darüber, wurde ernst, schien das  Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten  und warf es dann hinüber. Erst als der Wagen schon um die Ecke bog, gelang es der Frau, sich von seinem Anblick  loszureißen. Sie kam atemlos unten an. Eine Menschenmenge hatte  sich um den Polizeiwagen gesammelt. Die Polizisten waren abgesprungen, und die Menge kam hinter ihnen und der Frau her. Sobald man die Leute zu verscheuchen  suchte, erklärten sie einstimmig, in diesem Hause zu wohnen. Einige davon kamen bis zum letzten Stock mit. Von  den Stufen beobachteten sie, wie die Männer, nachdem ihr  Klopfen vergeblich blieb und die Glocke allem Anschein  nach nicht funktionierte, die Tür aufbrachen. Sie  arbeiteten  schnell und mit einer Sicherheit, von der jeder Einbrecher  lernen konnte. Auch in dem Vorraum, dessen Fenster auf  den Hof sahen, zögerten sie nicht eine Sekunde. Zwei von ihnen zogen die Stiefel aus und schlichen um die Ecke. Es war inzwischen finster geworden. Sie stießen an einen  Kleiderständer, gewahrten den Lichtschein am Ende des  schmalen Ganges und gingen ihm nach. Die Frau schlich  hinter ihnen her. Als die Tür aufflog, stand der alte Mann mit dem Rücken zu ihnen gewandt noch immer am Fenster. Er hielt ein  großes weißes Kissen auf dem Kopf, das er immer wieder  abnahm, als bedeutete er jemandem, dass er schlafen  wolle. Den Teppich, den er vom B oden genommen hatte,  trug er um die Schultern. Da er schwerhörig war, wandte er sich auch nicht um, als die Männer auch schon knapp hi n- ter ihm standen und die Frau über ihn hinweg in ihr eigenes finsteres Fenster sah. Die Werkstatt unterhalb war, wie sie angenommen hatte,  geschlossen. Aber in die Wohnung oberhalb musste eine neue Partei eingezogen sein. An eines der erleuchteten  Zimmer war ein Gitterbett geschoben, in dem aufrecht ein  kleiner Knabe stand. Auch er trug sein Kissen auf dem  Kopf und die Bettdecke um die Schultern. Er sprang und  winkte herüber und krähte vor Jubel. Er lachte, strich mit der  Hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das  Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten.  Dann warf er es mit aller Kraft den Wachleuten ins Gesicht.  
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